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Klausur

Ziele

Einkehr, Konzentration, Vertraulichkeit, Kollaboration und Schönheit möchten wir verbinden mit ungewohnter Begegnung, überraschenden, diversen Perspektiven und echtem Interesse. Die jahrhundertetiefe Historizität der Umgebung verbunden mit der Gegenwärtigkeit der gemeinsamen Problemstellung, die 39 Register der barocken Orgel des Diessener Marienmünsters mit der Digitalität der Zukunftsfragen; dies ist die Ausgangsbasis für das Zusammenkommen währen der Diessener Klausur Mensch-Maschine-Zukunft im Mai 2019.

Die Diessener Klausur soll keine der üblichen Tagungen im Veranstaltungsreigen der akademischen Öffentlichkeit werden: keine von kurzen Kaffeesmalltalkpausen unterbrochene Aneinanderreihung powerpointerisierter Vorträge, ritualisiert bis in die Grussformeln. Nein, uns geht es um die Ermöglichung und Anbahnung echten, intensiven Kennenlernens, Austauschs und Lernens unter wenigen, und zwar in einer Atmosphäre, die Erholung und Arbeit, Muße und Kontroverse in einem geschützten Raum verbindet.

Klausur heisst Abschluss, abgeschlossen werden soll aber nur vom Anforderungsstrom des Alltags, das wäre ein Abschluss, der die nötige Offenheit für die gegenwärtigen und anstehenden digitalen Herausforderungen vielleicht erst zu erzeugen in der Lage ist. Eine gemeinsame Bewegung ins Offene.

Die “Digital Humanities” erfahren so vielleicht einen ergänzenden Sinn; nämlich den einer neu entdeckten trans-akademischen Praxis über die digitalisierte Gegenwart und Zukunft, eine Rückbesinnung auf akademische Ursprünge angesichts einer neuen Ungewissheit über die digitalisierte Gestalt der gesellschaftlichen Zukunft. Digital Humanities sollen entsprechend praktiziert werden in einem un-disziplinierten Sinn des Wortes als Praxis der historisch, philosophisch, literarisch, künstlerisch und eben nicht nur technologisch informierten Auseinandersetzung mit der zunehmend immersiven Digitalität des Lebens.

Voraussetzungen

Seit noch nicht langer Zeit hat sich ein Bewusstsein der Radikalität des sich schon seit Jahrzehnten möglicherweise phasenhaft exponentiell vollziehenden digitalen Wandels aller gesellschaftlichen Bereiche auch außerhalb des Kreises der einschlägigen Expert*innen hergestellt. Der Begriff “Disruption” verschafft sich neuerdings als Metapher auch im politischen Geschäft seine Geltung; aber, wie so häufig, scheint sich die ebenso metaphorische wie modische Inanspruchnahme eines Begriffes außerhalb seines Entstehungskontextes ungünstig auszuwirken auf das, was mit ihm eigentlich erklärt werden sollte: Die bewusste oder unbewusste Unterbrechung kultureller Selbstverständlichkeiten durch technische Innovation im Modus der Digitalisierung. Diese digitale Disruption lässt sich mit Aufwand eine Weile fernhalten von geographischen, sozialen oder institutionellen Räumen: Bei der gleichbleibenden Radikalität und Geschwindigkeit des Wandels im Umfeld dieser gehüteten Bewahrungsinseln ist es dann nur eine Frage der Zeit und der notwendig begrenzten Bewahrungs- und Abschottungsressourcen bis sich der Wandel dann doch mit noch vielfach gesteigerter Gewalt seine Geltung auch in den bisherigen Refugien verschafft. Der digitale Wandel erfolgt im besten Falle als gestaltete Bewegung oder im schlechten Fall als unkontrollierbarer Dammbruch.

Die Diessener Klausur möchte diese Problematik der voraussetzungsvollen, komplizierten und konflikthaften Passung von technologischer Entwicklung und gesellschaftlichen Wirklichkeit für den weiten Bereich der Bildung in all ihren Facetten thematisieren. Bildung ist als solche diejenige gesellschaftliche Praxis, die Zukunft intentional im Zentrum ihres Bemühens hat. Bildung ist das Zukunftshandeln per se, ob in der Perspektive des Lernenden oder des Lehrenden. Wer (sich) heute bildet, bemüht stets notwendig das morgen.

Die Bildung ist demzufolge ein geeigneter Gegenstand, um exemplarisch über die digitale gesellschaftliche Wirklichkeit der Zukunft nachdenken. Dabei sollen institutionelle Rahmenbedingungen des gesellschaftlich-technologischen Akkulturationsprozesses, dessen unterschiedlichen Akteure mit ihren Professionen, Rollen, Erwartungen, Horizonten, die vorwaltenden ökonomischen Interessen, aber auch Fragen der Gamification und der für das Mensch-Maschine-Verhältnis zentralen Frage der Autonomiewahrung und Abhängigkeit, also auch Fragen der Gesundheit ihre Beachtung finden. Keine*r der Teilnehmer*innen wird alle diese Aspekte überblicken können, das wichtigste Anliegen des Formates besteht darin, die Vielstimmigkeit zum Vorteil aller in Kommunikation zu setzen.

Bildung ist nicht gleichbedeutend mit den staatlich gewährleisteten Bildungsinstitutionen, diese aber sind ein guter Pegelmesser der digitalen Akkulturation, der Entwicklung des Mensch-Maschine-Verhältnisse.  

Die dominierenden Institutionen des Bildungswesens, zumal in den deutschsprachigen Regionen Mitteleuropas, tragen, das muss man vielleicht einräumen, noch vielfach den Charakter einer anti-digitalen “Abschottungslandschaft”, ob an den Universitäten und Hochschulen, und Grund- und weiterführenden Schulen oder gar in der vorschulischen Erziehung, in der Schweiz offenkundig weniger als in Deutschland oder Österreich, in der einen Region mehr, dort weniger, an einer Muster-Universität vielleicht doch schon vorbildlich, an einer Durchschnitts-Schule wie vor 50 Jahren. Die Gründe dafür sind gewiss vielfältig: In der Bildungspolitik und -verwaltung und -wissenschaft hat man hie und da zu spät die Relevanz dieses Problems erkannt, die Kosten der Umstellung des Bildungswesens bei gleichzeitig hoher Frequenz der technologischen Produktinnovation sind sehr hoch, Expert*innen gab es naturgemäss zunächst nicht viele usw. Ein Hauptproblem des kulturell-technologischen Anpassungsprozesses bestand und besteht aber wahrscheinlich in der Resilienz der gestaltenden Bildungsakteure gegenüber struktureller kultureller Anpassung. Es gibt selbstverständlich auch unter Erzieher*innen, Lehrer*innen und Dozent*innen einen Pioniergeist, der solche grundlegende gesellschaftliche Wandlungen wie die digitale Revolution zum Anlass einer angemessenen, heisst hier oft: radikalen Revision ihrer Konzepte macht, in der Regel dominiert aber eine Abwehr- und Vermeidungshaltung. Die Lebensrealität und kulturellen Praktiken der Lehrpersonen und Heranwachsenden, des Unterrichts und der Freizeit klaffen oftmals enorm auseinander, mit gravierenden Folgen für die Kompetenzen der Heranwachsenden, geeignete kulturelle Habitus und Praktiken des sinnvollen Einschlusses der immer wieder neuen digitalen Technologien für ihr alltägliches Leben kritisch zu prüfen und in Auseinandersetzung mit den bestehenden analogen kulturellen Traditionen, Institutionen und Praktiken für sich weiterzuentwickeln. Formen der intergenerativen Sprachlosigkeit, aber auch einer naiven Anfälligkeit für technologisch- und kulturell neuartige kommerzielle und politische Angebote sind die Folge, bis hin zur Verbreitung neuer Suchtformen, für deren Diagnose und Behandlung auch allererst nicht-abschottende, aggressiv-negierende, sondern verstehende Formate entwickeln werden mussten und müssen.

Gleichzeitig interessieren sich, wie könnte es anders sein?, die großen Digitalkonzerne für alle Einrichtungen des Bildungswesens, entwickeln institutionell anwendungsfähige und technisch anschlussfähige Lösungen, sie tun dies aber selbstverständlich mit einer mittel- bis langfristigen Gewinnerwartung, die wiederum technische Lösungen präformiert, die dadurch eben nicht von den didaktischen, lernpsychologischen oder gesundheitlichen Einsichten bestimmt wird, die bisher das Bildungswesen mit guten Gründen grundsätzlich bestimmten.

Was fehlt, das sind grundlegende kulturelle Ideen und konsensuelle Gestaltungsperspektive für den Bildungsbereich, aus denen Konzepte der sinnhaften und humanen Gestaltung der digitalen Revolution entwickelt werden könnten. Um diese zu entwerfen, braucht es Blicke aus der Politik, der Praxis, der Forschung, der Kunst auf dasselbe Phänomen. Daher laden wir Expert*innen aus diesen Feldern ein, um ihre Expertise im Hinblick auf eine noch unbeantwortete Frage einzubringen, um in einem offenen Format einen gemeinsam einen Wurf zu versuchen. Die Klausur Mensch – Maschine – Zukunft  will einen Anfang setzen.