Was macht die Digitalisierung mit dem Erzählen? Einwürfe und Provokationen – Kloster Dießen, 2026
KI wird ein selbstverständlicher, für uns dann vielfach unsichtbarer Teil dessen werden, welche Geschichten wir uns erzählen werden. Abzuschätzen gilt es, inwieweit diese Transformation durch KI ein Bruch für unsere Selbstverständigung als Menschen bedeutet. Während der Buchdruck zu der modernen Subjektivierung unserer Selbstverständigung geführt hat, ist derzeit offen, wohin sich die Entwicklung der KI die erzählende Seite des Menschen verändern wird. Es gibt Argumente für verschiedenen Szenarien: In einem extremen Szenario übernehmen die Maschinen die Kontrolle über die Geschichten, die wir über uns erzählen. Im Gegenszenario setzt KI eine kulturelle und narrative Produktivität frei, die es bislang kaum sprechfähigen Menschen ermöglicht, sich selbst auszudrücken. Wahrscheinlicher ist ein Szenario dazwischen, nur mit der Schwierigkeit, dass dieses “Dazwischen” viel zu ungenau ist, um eine Zukunftserzählung zu entwickeln, die unser Handeln anleiten könnte.
Es gibt eine Reihe von Befunden in der Anthropologie, dass das Erzählen nicht zuerst mythisch inspiriert war, sondern vielmehr der Vermittlung des Wissens über die Welt und ihre Zusammenhänge gedient hat. In verschiedenen Rollen versichern wir uns gegenseitig über das Funktionieren der Welt. Dieses Wissen ist zu einem sehr großen Teil von KI-Systemen gescrapt worden. KI-Systeme verstehen die Weltzusammenhänge inzwischen zu einem erheblichen Teil und können uns die Welt erzählen. Menschen sind hier nurmehr die Zulieferer für Wissen über die Welt, das die Maschinen aufgrund ihrer riesigen Speicher und Lernverfahren besser als Menschen zu sinnvollen Geschichten verweben können. Dabei ‘verstehen’ schon jetzt KI-Systeme die feinen Zwischentöne von Geschichten und können Autorenintentionen erkennen. Verlage nutzen längst KI, um automatisiert Geschichten zu erzählen. Was ihnen jedoch fehlt, ist – zumindest bislang – das Bedürfnis, sich anderen mitzuteilen. Macht die intrinsische Motivation des Teilens den Unterschied zu den Maschinen?
In der Dießener Klausur suchen wir diese existentiellen Momente des Erzählens auf, die möglicherweise den Unterschied im Erzählen zwischen Mensch und Maschine machen. Diskutiert werden das Erzählen an den Schwellen der menschlichen Biographien, den Krisen und Höhepunkte. Wir fragen nach den sozialen und therapeutischen Funktionen des Geschichtenteilens, aber auch den Prozessen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung durch ein Erzählen, das nicht ohne eine Mitteilung von Motivationen, Werten und Intentionen auskommen kann. Wie verändern wir uns und die Funktionen des Erzählens, wenn dieses Erzählen immer selbstverständlicher auch KI-gestützt sein wird? Bleibt das Persönliche dann als eine Insel zurück oder geben erst Intentionen, Motive und Wertungen dem Erzählen seine Bedeutung? Ist Geschichten teilen etwas anders als Geschichten nur als Informationsübertragung zu nutzen? Kurz, gibt es das Proprium des spezifisch menschlichen Erzählens überhaupt oder ist der homo narrans nur eine trostvolle Einbildung, nicht mehr?
Bei der Dießener Klausur kommen Vertreterinnen und Vertreter aus den Wissenschaften, Bildung und Kultur zusammen, um zu diskutieren, was diese Entwicklungen für Bildungseinrichtungen und Literaturbetrieb, für Lernen und Erzählen und damit immer auch für unser gesellschaftliches Selbstverständnis von Kultur bedeutet.
