Die diesjährige Klausur möchte Raum geben für die Frage, welche Rolle Digitalität für die politischen Parteien, ihre Kommunikation mit den Wähler:innen, die diskursive Formierung von Themen, die Herstellung von Mehrheiten und die Regulierung eben dieser Digitalität spielt. Oder wird diese Frage schon längst jenseits der klassischen Parteienlandschaft beantwortet? Nach dem großen Erfolg der ersten Dießener Klausur im Mai 2019, auf der wir uns mit 20 Expert:innen über die digitale Zukunft der Bildung ausgetauscht haben (-> Buch), begeben wir uns für die nächste Klausur in die Schweiz, um uns mit den «Digitalen Chancen für die Demokratie» auseinanderzusetzen. Besonders sind wir an einer konstruktiven Perspektive auf die digitale Gesellschaft interessiert und möchten mit den diesjährigen Teilnehmenden diskutieren, welches Potential Digitalität für unsere Gesellschaft haben könnte, haben sollte und haben wird. Was sind Best Practices, von denen wir lernen können, wie eine digitale Gesellschaft zugleich eine gerechtere werden könnte, was sind die Ideen, was die Narrative, die wir für eine digitale Demokratie brauchen?
Spätestens seit der Declaration of the Independence of Cyberspace 1996 in Davos durch John Perry Barlow ist die Digitalisierung eng mit der Forderung nach Demokratisierung verknüpft. Nicht nur Barlow proklamiert eine Gesellschaft jenseits der Nationalstaaten, wie wir sie kennen, eine Weltgesellschaft, die sich im Netz ihre eigenen Regeln selbst gibt. Dass die Wirklichkeit eine andere war und ist, wusste schon Barlow, war doch seine Unabhängigkeitserklärung gegen das amerikanische Telekommunikationsgesetz von 1996 und dessen zensorischen Eingriff in der Freiheit des entstehenden Internets gerichtet. Der Aufbruch von damals und seine Grundidee einer Verbindung von Digitalisierung und Demokratie ist die Inspiration für so unterschiedliche Initiativen wie die Entstehung der Piratenparteien, für Konzepte einer partizipativen e-Governance oder für die Idee eines auf Blockchain-Technik beruhenden Weltrechts. Davon ist in der Öffentlichkeit freilich gegenwärtig wenig die Rede, viel dagegen von Fake News, Filterblasen und der Polarisierung der Gesellschaft. Auch wieweit die Covid-19-Pandemie unser Verhältnis als einzelne wie als Gesellschaft zur Digitalisierung verändert hat, ist mindestens kontrovers.
Von der gesellschaftsverändernden Kraft der Digitalisierung ist dagegen nur selten die Rede. Ist die Zeit für emphatische Setzungen und enthusiastische Verknüpfungen von Freiheit, Demokratie und Internet vorbei? Wir denken nicht. Aufrufe wie etwa das “Human-centric digital manifesto for Europe. How the digital transformation can serve the public interest” von 2019, globale Initiativen wie Bitnation, Tim Berners-Lee Solid-Initiative, dezentrale Lösungen für Corona-Warnapps oder lokale wie e-Mitwirkung oder auch die gegenwärtigen europäischen Debatten um das Digital Services Act bzw. Digital Markets Act – sie alle unterstreichen, wie drängend die engere Verknüpfung von Digitalisierung und gesamt-gesellschaftlicher Partizipation ist.
Die Idee der Klausur ist es, Einkehr, Konzentration, Vertraulichkeit, Kollaboration und Schönheit mit ungewohnter Begegnung, überraschenden, diversen Perspektiven und echtem Interesse zu verbinden. Ein Ruhemoment für die Findung und Artikulation von Gedanken, die bei der Gestaltung der digitalen Transformation Gewicht bekommen sollten. Diese Ruhe finden wir für dieses Jahr im Jugendstil-Hotel Paxmontana auf Flüeli-Ranft, im Kanton Obwalden in der Schweiz, Heimatort des politischen Ratgebers, Einsiedlers, Mystikers und Schutzpatron der Schweiz, Niklaus von Flüe.